Herztod im Schafspelz: Der schleichende Umbau des Todesbegriff

Kritischer Bericht zur Antwort der Bundesregierung zur Organspende (BT-Drs. 20/15149)

Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage vom März 2025 zum Thema Organspende offenbart gravierende Mängel in Transparenz, Argumentation und faktenbasierter Bewertung. Während das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erneut betont, dass der irreversible Hirnfunktionsausfall zwingende Voraussetzung für eine postmortale Organspende sei, bleibt die Regierung eine differenzierte und ehrliche Auseinandersetzung mit der Thematik schuldig. Die Unkenntnis, die in Teilen der Antwort behauptet wird, erscheint nicht als tatsächliches Nichtwissen – sie wirkt vielmehr wie eine gezielte Irreführung sowohl gegenüber den Fragestellern als auch, weit schwerwiegender, gegenüber dem Souverän, der Bevölkerung.

Bezeichnend dazu ist bereits der Umgang mit der ersten Frage der Anfrage:

1. Liegen der Bundesregierung Untersuchungen oder Studien vor, aus denen hervorgeht, dass die Einführung einer Widerspruchsregelung nachweislich kausal zu einer Erhöhung der Organspendenzahlen führt, und wenn ja, welche?

Die Antwort verweist auf Studien zu Großbritannien, den Niederlanden und Schottland, die „positive Entwicklungen“ bei Organspenderzahlen feststellen würden, relativiert aber gleichzeitig deren Aussagekraft, da „Unterschiede in den Organspenderaten multifaktoriell“ seien und „Vergleichs- und Langzeitstudien nur bedingt aussagekräftig“ seien. Diese rhetorische Doppelstrategie ist irreführend: Einerseits werden Studien als Beleg zitiert, andererseits werden sie sofort entwertet – eine klassische Argumentation ohne Substanz.

Großbritannien (England)

Die Widerspruchsregelung wurde dort im Mai 2020 eingeführt. Laut dem NHS Blood and Transplant Report 2022/23 gab es in England 1.429 postmortale Organspender – nahezu identisch mit den 1.441 Spendern im Jahr 2019/20, also vor der Einführung. In den Jahren unmittelbar nach der Umstellung war teilweise sogar ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Ein klarer Anstieg der Spenderzahlen lässt sich nicht erkennen – die erwartete Wirkung der Widerspruchsregelung blieb aus.

Schottland

Hier trat die Widerspruchsregelung im März 2021 in Kraft. Im ersten Jahr danach (2021/22) ging die Zahl der Organspender leicht zurück. Erst im Folgejahr (2022/23) gab es eine moderate Steigerung – allerdings lag diese weiterhin unter dem Niveau anderer britischer Regionen ohne Widerspruchsregelung. Auch hier wird deutlich: Die Gesetzesänderung allein bewirkt keine signifikante Zunahme, wenn sie nicht von weiteren Maßnahmen wie verbesserter Aufklärung, struktureller Optimierung und Vertrauensbildung begleitet wird.

Niederlande

Die Niederlande führten die Widerspruchsregelung („Act Active Donor Registration“) im Juli 2020 ein. Seitdem gilt jeder Bürger automatisch als Organspender, sofern er nicht aktiv widerspricht oder eine andere Entscheidung dokumentiert. Die Einführung wurde begleitet von intensiver medialer und politischer Debatte – sowie einer groß angelegten Informationskampagne.

Ein Blick auf die Spenderstatistik zeigt zunächst einen scheinbaren Erfolg: Laut Eurotransplant stiegen die Spendenzahlen von 14,4 Spendern pro Million Einwohner (pmp) im Jahr 2020 auf 20,1 pmp im Jahr 2024 – ein Anstieg, der auf den ersten Blick die Wirksamkeit der Widerspruchsregelung nahelegt. Doch dieser Eindruck täuscht.

Denn in den Niederlanden existieren – wie in den meisten europäischen Ländern – zwei verschiedene Todesdefinitionen:
– DBD (Donor after Brain Death) – Spende nach Hirntod
– DCD (Donor after Circulatory Death) – Spende nach Herz-Kreislauf-Stillstand (nach 5–10 Minuten ohne Herzschlag)

Schaubild 2 zeigt die Gesamtsumme, die sich aus DBD und DCD zusammensetzt. Die hohe Zahl von 20,1 pmp im Jahr 2024 ergibt sich vor allem durch den massiven Anstieg der DCD-Spenden – einer Praxis, die in Deutschland noch nicht erlaubt ist. Allerdings wurde die DCD bereits bei der Diskussion um die Cross-over-Spende,als weitere Möglichkeit mehr Organe zu gewinnen, eingebracht.

Bemerkenswert ist zudem, dass in den Niederlanden auch Organspenden nach aktiver Euthanasie zur Transplantation zugelassen sind.

Geht man davon aus, dass in Deutschland dieselben Bedingungen herrschten wie in den Niederlanden – also die Zulassung von Organspenden nach Hirntod (DBD), nach Herzstillstand (DCD) sowie nach Euthanasie –, würden auch hier vergleichbar hohe Spenderzahlen erreicht werden.

Jahr

Niederlande
(DBD)

Niederlande
(DCD)

Niederlande
(Euthanasie)

Gesamt NL

Deutschland
(nur DBD)

Deutschland
(DBD u.DCD)

2020

5,75 pmp

7,82 pmp

0,63 pmp

14,2 pmp

10,7 pmp

15,18

pmp

2024

6,98 pmp

11,34 pmp

1,79 pmp

20,1 pmp

10,9 pmp

19,50

pmp

Die Einführung der Widerspruchsregelung allein wird jedoch keine signifikanten Zuwächse bringen, denn sie erhöht nicht die Zahl der Patienten, die in den Hirntod fallen.

Die in anderen europäischen Ländern teilweise hohen Spenderzahlen resultieren vor allem daraus, dass die Spenderbasis dort auf einen erheblich erweiterten Krankheits- und Todespool ausgedehnt wurde – auf Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand. Und genau dies ist der eigentliche Hintergrund der politischen Bemühungen um die Widerspruchsregelung: Die schrittweise Vorbereitung auf eine Ausweitung der Todesdefinition – hin zum Herz-Kreislauf-Tod.

Die Antwort der Bundesregierung ist kein Ausdruck wissenschaftlich fundierter Gesundheitspolitik, sondern ein Versuch, durch unklare und widersprüchliche Aussagen eine politisch gewünschte Position zu stützen. Die tatsächliche Wirkung der Widerspruchsregelung auf die Spenderzahlen wird weder belegt noch sachlich analysiert. Stattdessen erleben wir eine Rhetorik der Schein-Begründungen – ein fragwürdiger Umgang mit einem hochsensiblen Thema, das Leben und Tod betrifft.

Quellen:

Kleine Anfrage: Umsetzung des Transplantationsgesetzes https://dserver.bundestag.de/btd/20/150/2015095.pdf

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage https://dserver.bundestag.de/btd/20/151/2015149.pdf

Statistik von Eurotransplant: https://statistics.eurotransplant.org/?utm_source=chatgpt.com, 17.04.2025




Anhörung im Gesundheitsausschuss: Widerspruchslösung

„Wieder dieselben Argumente – doch eine Stimme sticht heraus“

Die Anhörung zur Organspendereform brachte wenig Überraschendes: Die alten Argumente wurden erneut vorgetragen, ohne wirklich neue Erkenntnisse zu liefern. Einen Bericht über die Ausschusssitzung können Sie hier lesen.

Doch mitten in dieser routinierten Debatte sorgte eine Stimme für Aufsehen – Ulrike Sommer sprach mit eindringlicher Klarheit über ihre persönliche Entscheidung und die ethischen Herausforderungen der Organspende. Ihre Worte hatten eine besondere Stärke, die mich an frühere Aussagen von Frau Greinert (Buchbesprechung) erinnerte. Bedauerlicherweise findet dieser, meiner Meinung nach beeindruckendste Beitrag, weder in der Presseerklärung des Bundestags noch in den Medien Erwähnung. Es ist nicht das, was politisch gehört werden soll!

Die eindringliche Stellungnahme von Frau Sommer

Frau Sommer eröffnete ihre Rede mit einer höflichen, aber bestimmten Begrüßung: „Ganz herzlichen Dank, Frau Vorsitzende, meine Damen und Herren. Ich bin Ulrike Sommer. Ich bin Journalistin. Ich bin Autorin.“ Dann berichtete sie von ihrer persönlichen Geschichte. Sie erhielt 1994 die Diagnose, dass ihre Zystennieren zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr versagen würden. Diese Prognose gab ihr 20 Jahre Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sie ein Organ eines verstorbenen Menschen annehmen würde.

Besonders bewegend war ihr persönliches Gedankenexperiment über ihre damals vierjährige Tochter: „Weil ich Fantasie habe, habe ich mir überlegt, sie liegt in ihrem Bettchen nach einem schweren Unfall und das Herzchen klopft noch, und die Ärzte sagen, sie ist tot. Und wir würden gerne anfangen. Und ich konnte das nicht. Ich konnte nicht Ja sagen.“ Sie betonte, dass sie Organspenden für wichtig halte, aber dass eine Organentnahme ohne Zustimmung für sie nicht akzeptabel sei.

Frau Sommer sprach über die Unzulänglichkeiten der aktuellen Praxis in Bezug auf den festgestellten Hirntod. Sie wies darauf hin, dass Maschinen bestimmen, ob ein Mensch hirntot sei und dass damit der Todeszeitpunkt vorverlegt werde. Sie unterstrich, dass auch unter der Widerspruchsregelung Eltern weiterhin über eine mögliche Organspende ihrer verstorbenen Kinder entscheiden müssten, was das grundlegende Problem nicht verändere.

In ihrer Rede sprach Frau Sommer auch über ihre persönliche Lösung: Ihr Ehemann spendete ihr vor elf Jahren eine Niere. Sie sagte mit Nachdruck: „Zum Glück hat mein Mann mir eines seiner beiden Nieren geschenkt. Ich bin seine Wanderniere.“ Doch sie stellte klar, dass sie sich nicht auf eine Organwarteliste setzen würde, falls diese Niere versagen sollte. „Denn ich kann nicht nehmen, was ich nicht geben will. Das ist für mich ganz klar.“ Dies zeigt die ethische Konsequenz ihrer Position.

Weiterhin beschrieb sie, wie tiefgreifend eine Organtransplantation für das Leben der Betroffenen ist: „Eine Transplantation ist körperlich und emotional eine unfassbare Herausforderung. Der Alltag wird auf den Kopf gestellt, jedenfalls bei uns, inklusive heftiger Gefühle von Schuld bis Dankbarkeit – für beide Seiten.“ Ihr Appell war, dass eine Organentnahme niemals als routinemäßige medizinische Maßnahme betrachtet werden dürfe.

Frau Sommer kritisierte die Widerspruchsregelung scharf, weil sie darauf abziele, dass Menschen sich nicht mit dem eigenen Tod auseinandersetzen: „Die Widerspruchslösung spekuliert darauf, dass möglichst viele Menschen nicht über die konkreten Umstände ihres Todes nachdenken.“ Sie betonte, dass es ein Recht sein müsse, nicht gezwungen zu werden, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

Ihr Abschluss war ein eindringlicher Appell: „Eine Organspende im Leben oder im Tod ist für mich ein unfassbares Geschenk. Und ich finde, man muss wenigstens fragen.“

Die Worte von Frau Sommer waren außergewöhnlich eindringlich und persönlich. Ihr Plädoyer verdeutlichte, dass Organspende keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine zutiefst ethische Entscheidung, die bewusst getroffen werden muss. Dass ihr Beitrag in den offiziellen Berichten und Medien kaum Beachtung findet, ist bezeichnend dafür, welche Stimmen in der Debatte bevorzugt werden. Ihre Haltung macht deutlich, dass die Frage nach der Organspende weit über eine gesetzliche Regelung hinausgeht – es ist eine Frage des Menschenbildes und der Selbstbestimmung.

Die gesamte Anhörung können Sie in der Mediathek des Bundestags abrufen (Bitte etwas herunterscrollen).