Nicht widerspruchsfähige Menschen: Wer schützt sie vor diesem Systemzwang?
Die Widerspruchslösung steht im Zentrum ethischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Kontroversen. Dieses System, das mittlerweile in vielen Ländern die Grundlage für die Organ- und Gewebespende bildet, verlangt, dass Personen ihren Widerspruch aktiv dokumentieren, wenn sie nicht als Spender infrage kommen wollen. Im Kern des Modells liegt die Annahme, dass Schweigen Zustimmung bedeutet. Doch diese Prämisse ignoriert eine wesentliche Gruppe: Menschen, die nicht widerspruchsfähig sind.
Das Versagen der Widerspruchslösung zeigt sich insbesondere im Umgang mit nicht widerspruchsfähigen Personen. Diese Menschen, etwa jene mit schweren kognitiven Einschränkungen, Demenz oder langfristigen Bewusstseinsverlusten, können ihren Willen nicht äußern. Der aktuelle Gesetzesentwurf verdeutlicht jedoch, dass die Entnahme von Organen oder Geweben bei Menschen, die „in einem erheblichen Zeitraum vor Feststellung des Todes“ nicht einwilligungsfähig waren und keine Erklärung zur Organ- oder Gewebespende abgegeben haben, unzulässig ist. Diese Regelung soll einen Schutz für diese vulnerable Gruppe bietet, indem sie die Unzulässigkeit der Spende im Zweifelsfall betont.
Bei Personen, die nur „in einem kurzen Zeitraum vor Feststellung des Todes“ nicht einwilligungsfähig waren, soll die Widerspruchsregelung weiterhin Anwendung finden. Dies muss natürlich so formuliert werden, denn ein Hirntoter war natürlich kürzere oder längere Zeit vor dieser Feststellung nicht einwilligungsfähig. Doch bestehen Zweifel an der Dauer oder der Feststellung der Nichteinwilligungsfähigkeit, ist auch in diesen Fällen von einer Unzulässigkeit der Spende auszugehen. Diese Differenzierung macht deutlich, wie schwierig es ist, eine klare Grundlage zu schaffen, die dem mutmaßlichen Willen der betroffenen Person gerecht wird.
Die Widerspruchslösung erzeugt darüber hinaus eine strukturelle Ungleichheit. Nicht widerspruchsfähige Menschen werden de facto zur Spende genötigt, da sie keine aktive Möglichkeit haben, Nein zu sagen. Selbst wenn die Gesetzgebung hier Schutzmechanismen vorsieht, bleibt die Praxis mehr als anfällig für Unsicherheiten und subjektive Interpretationen. Denn wie soll festgestellt werden, ob ein Spender widerspruchsfähig (prinzipiell oder kurzfristig) war oder nicht? Dies steht auch in direktem Widerspruch zu grundlegenden Prinzipien der Autonomie und Menschenwürde.
Ein ethisch vertretbares Modell müsste sicherstellen, dass Spenden ausschließlich auf einer informierten und bewussten Entscheidung beruhen – was im Rahmen der Widerspruchslösung nicht zu gewährleisten ist. Zudem stellt sich die Frage, wie sicher festgestellt werden kann, ob der Hirntote zu einem relevanten Zeitpunkt vor dem Tod einwilligungsfähig war. Ohne klare und nachvollziehbare Kriterien bleibt diese Feststellung eine Grauzone, die das Vertrauen in das System untergräbt.
Darüber hinaus wirft die Widerspruchslösung hohe Anforderungen an die Gesellschaft auf. Sie setzt voraus, dass alle Menschen sich ausreichend über ihre Rechte informieren und rechtzeitig handeln. Doch wer übernimmt die Verantwortung für jene, die dies nicht können? Staatliche Aufklärungskampagnen reichen, wie die Regierung selbst einräumt, nicht aus, um die gesamte Bevölkerung zu erreichen. Menschen mit sprachlichen, kognitiven oder sozialen Barrieren bleiben uninformiert und damit schutzlos. Dieser Mangel an Chancengleichheit untergräbt das Vertrauen in das gesamte System.
Juristisch betrachtet birgt die stillschweigende Annahme von Zustimmung das Risiko, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt wird. Insbesondere bei nicht widerspruchsfähigen Personen fehlen klare Mechanismen, um sicherzustellen, dass ihre Grundrechte gewahrt bleiben. Die Abhängigkeit von Dritten – sei es durch gesetzliche Betreuer oder Angehörige – führt zu einem weiteren Problem: Die Entscheidungsfindung wird subjektiv und anfällig für externe Einflüsse. Dies schwächt die Verbindlichkeit des Systems.
Auch aus psychologischer Perspektive ist die Widerspruchslösung fragwürdig. Sie beruht auf der Annahme, dass Zustimmung durch Inaktivität oder Schweigen gegeben wird. Doch Schweigen ist nicht gleich Zustimmung. Insbesondere bei Menschen, die sich aus Angst, Unwissenheit oder Unsicherheit nicht aktiv mit der Thematik auseinandersetzen, können falsche Schlussfolgerungen gezogen werden. In der Folge wird nicht nur das Vertrauen in das Gesundheitssystem sondern auch in unsere demokratische, freiheitliche Verfassung erschüttert, wenn Menschen das Gefühl haben, dass Entscheidungen über ihren Körper ohne ihre ausdrückliche Einwilligung getroffen werden.
Die Alternative zu diesem ethisch problematischen Ansatz liegt weiterhin in der Zustimmungs- oder Opt-in-Lösung. Diese stellt sicher, dass nur diejenigen als Spender registriert werden, die sich aktiv dafür entscheiden. Gleichzeitig wären intensive, neutrale und offene Aufklärungskampagnen und leicht zugängliche Registrierungsmöglichkeiten notwendig, um die Anzahl der potenziellen Spender zu erhöhen. Die Aufklärung zur Organspende kann ausschließlich die Belange des potentiellen Spenders berücksichtigen und keinesfalls die des Empfängers. In einem solchen System bleibt die Autonomie der Person gewahrt, und die Entscheidungsfindung erfolgt bewusst und informiert.